9 November 2016

 

Rede von Georg Fülberth am Gedenkstein in Mörfelden 

 

Geschätzte Anwesende.

Wenn wir heute Abend wieder einmal, wie an jedem 9. November, des antisemitischen Pogroms von 1938 gedenken, sollten wir nicht nur über die Vergangenheit reden, sondern auch über Gegenwart und Zukunft. Wir fragen uns: Wie war das damals, 1938, und wie ist die Situation 2016, und was könnte daraus werden?

 

Beginnen wir mit dem, was war.

 

Wer über 1938 spricht, wird nicht mit 1938 beginnen, sondern mit 1933.

 

Am Anfang jenes Jahres 1933 haben die deutschen wirtschaftlichen Eliten: die Großbanken, die Spitzen der Montan-, der Elektro- und der chemischen Industrie, sich bereitgefunden, Hitler an die Macht zu bringen. Ihr Ziel war die Zerschlagung der Arbeiterbewegung und ein erneuter Griff zur Weltmacht, der mit dem Diktatfrieden von Versailles 1919 vorerst gestoppt war. Der Reichsverband der Deutschen Industrie hatte die innenpolitischen Absichten seiner Mitglieder 1929 in einer Denkschrift mit dem Titel „Aufstieg oder Niedergang?“ niedergelegt: Senkung der Löhne und der Lohnnebenkosten.

 

Hitler war nicht die erste Wahl dieser Kreise gewesen. Ihre Ziele versuchten sie zunächst mit dem Kanzler Heinrich Brüning von der Zentrumspartei, seinen Nachfolgern Franz von Papen und dem General Kurt von Schleicher durchzusetzen, ohne parlamentarische Mehrheit, aber gestützt auf den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und seine Notverordnungen. Es half aber nichts, die Krise wurde immer schlimmer, die Eliten hatten keine Massenbasis. Diese verschafften sie sich jetzt, indem sie auf Hitler setzen. Er hatte seit 1930 eine Wahl nach der anderen gewonnen, er hatte abgestiegene oder von Abstiegsangst getriebene Kleinbürger, verschuldete Bauern und eine anschwellende bewaffnete Truppe, die SA, hinter sich gesammelt. Hitler war bereit, das Programm der Eliten umzusetzen, es war ja auch sein Programm. Seine mitreißende Dynamik aber gewann er schon vor 1933 dadurch, dass er Wut weiter Kreise des Volkes nutzte und mobilisierte: Wut über den in der Tat imperialistischen Frieden von Versailles, über die Enteignung der Mittelschichten in der Inflation bis 1923, über Not und Massenelend in der Weltwirtschaftskrise ab 1929. Als Urheber all dieser Übel nannte er die Juden. Den Eliten war das recht, denn es lenkte von den tatsächlichen Verursachern ab: das waren sie selbst, die Eliten der anderen kapitalistischen Länder und schließlich die gesamte kapitalistische Ordnung. Das Bündnis von Mob und Elite, wie die politische Theoretikerin Hannah Arendt es später nannte, war die Ursache für die Machtübertragung von 1933, das Pogrom von 1938 und danach für den neuen Krieg und den Völkermord an den Juden.

 

So war das damals. Wie ist es heute?

 

Auf den ersten Blick ist es ganz anders.

 

Deutschland hat zwar inzwischen zwar einen weiteren, der Zweiten Weltkrieg verloren, aber es hat den Kalten Krieg gewonnen. Es ist nicht mehr ein Paria wie nach Versailles, im Gegenteil, es gilt als die europäische Führungsmacht. Seine Waren überschwemmen die europäischen Märkte, sie konkurrieren die dortigen Industrien nieder oder verhindern durch ihre günstigen Angebote, dass dort neue Industrien entstehen können. So kommt es zu hoher Arbeitslosigkeit im Süden und auch Westen des Kontinents. Außerhalb Europas, im Nahen Osten und Nordafrika, brechen ganze Gesellschaften und Staaten unter dem Druck eines Weltmarktes zusammen, auf dem sie selbst keine Chancen haben, aber auf dem Deutschland gedeiht. Dort toben Bürgerkriege, in denen Waffen aus deutschen Exporten, und sei es auf indirektem Weg, Verwendung finden.

 

Das ist nicht schön, aber diesmal liegt Deutschland nicht unten, sondern es steht oben.

 

Doch obwohl das so ist, breitet sich in einem Teil der deutschen Gesellschaft aggressive Unzufriedenheit aus – nicht über die Ungerechtigkeit der Welt-Unordnung und den Anteil, den Deutschland daran hat, sondern über die Opfer dieser Welt-Unordnung und auch Deutschlands. Diese Opfer suchen ihrer Not als Bürgerkriegsflüchtlinge, als politisch Verfolgte oder als wirtschaftlich Bedrängte zu entkommen. Unterkünfte von Asyl-Bewerberinnen und Asylbewerbern brennen, Pegida marschiert, eine fremdenfeindliche Partei, die AfD, hat Erfolg.

 

Die sich ausbreitende Gewalt von rechts ist durchaus schon eine Parallele zur Schlussphase der Weimarer Republik. Aber anders als damals verhalten sich heute die wirtschaftlichen Eliten, das ist wahr. Der Bundesverband der Deutschen Industrie, der Nachfolger des einstigen Reichsverbandes der Deutschen Industrie, wendet sich gegen die Fremdenfeindlichkeit, ebenso der Deutsche Industrie- und Handelskammertag. Diese Stellungnahmen sind zu begrüßen, sie dürften ehrlich sein, denn sie entsprechen tatsächlich den Interessen dieser Verbände und ihrer Mitglieder. Mit Recht weisen sie auf drohenden Fachkräftemangel und eine zu niedrige Geburtenrate in Deutschland hin, die durch Zuwanderung behoben werden könnten.

 

Ein Bündnis aus Mob und Elite findet zurzeit also nicht statt – zumindest nicht in Deutschland. Anders könnte es jetzt schon in den USA sein. Da ist ein Mann zum Präsidenten gewählt worden, der seine eigenen niedrigsten Instinkte und die seines Anhangs gegen das so genannte Establishment mobilisierte. Auf den ersten Blick scheint auch dort kein Bündnis zwischen Mob und Eliten zu bestehen. Doch wer schließt aus, dass die US-amerikanischen Eliten sich ganz rasch mit Trump arrangieren? Mehr noch: Als Milliardär gehört er ja selbst zum ökonomischen Establishment – so wie einst in Italien hat ein Großkapitalist die politische Macht erobert, und seine aufrührerischen Anhänger, der Mob, sind seine Schwungmasse.

 

Dass es in Deutschland noch nicht so weit ist, könnte beruhigen. Den einzelnen Flüchtlingen, die vom Mob gejagt werden, und den Opfern des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds hilft das allerdings nicht. Denn leider gibt es doch noch eine andere Parallele zur Zeit vor 1933: Teile des Staatsapparats, der Justiz und der Polizei scheinen oder sind tatsächlich nicht in der Lage, die Bedrohten zu schützen. Inzwischen weiß man, dass die so genannten „Reichsbürger“ Sympathisanten und Mitglieder unter der Polizei haben. Die Rolle des so genannten Verfassungsschutzes in der NSU-Affäre ist noch immer nicht aufgeklärt.

 

Mögen die wirtschaftlichen Eliten zur Zeit den Mob auch alleine lassen – wie würde es in Deutschland aussehen, wenn sie wie Anfang 1933 ihre Haltung wieder ändern würden? Es ist nicht auszudenken. Der Mob jedenfalls ist schon da. Ohne ihn hätte die Bereitschaft der Eliten 1933, sich mit ihm zu verbünden, ja gar nicht stattfinden zu können. Deshalb ist es dringend notwendig, die neue Rechte, die sich derzeit in Deutschland wieder breit macht, zu bekämpfen, damit irgendwann die wirtschaftlichen Eliten gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen.

 

Den rechten Mob bekämpfen – ja. Es fragt sich aber: Wie? Nicht jeder und jede derjenigen, die sich jetzt gegen Flüchtlinge wenden oder AfD wählen, sei ein Nazi, so hört man. Da ist etwas dran. Wer in beengten Verhältnissen lebt, fürchtet Konkurrenz durch zusätzliche Wohnungssuchende. Wer arbeitslos ist oder schlecht bezahlt wird, mag Angst davor haben, dass sein Job an andere gegeben werden könnte oder Lohndruck entsteht. Wer von öffentlicher Unterstützung lebt, sieht die entweder reale oder eingebildete Gefahr, dass sie nicht für alle reichen wird, wenn neben den Einheimischen jetzt auch neu Hinzukommende davon leben müssen. Leute der Mittelschicht, die sich Sorgen um ihre künftige Alterssicherung machen, können zu Ressentiments neigen. Der enorme Reichtum, der sich ganz oben ansammelt, wird zu Provokation für diejenigen, die weiter unten leben und keine Handhabe sehen, an dieser Ungleichheit und Ungerechtigkeit etwas zu ändern.

 

Fragen wir uns also, ob diese Befürchtungen und Missstimmungen berechtigt sind. Meiner Meinung nach lautet die Antwort: Ja und Nein.

 

Ja deshalb, wenn der wirtschafts- und sozialpolitische Rahmen so relativ eng bleibt, wie er derzeit ist und wenn die Ungleichheit weiter so zunimmt wie jetzt.

 

Nein dann, wenn die öffentlichen Aufwendungen für Hilfsbedürftige, Einheimische und Geflüchtete so erweitert werden, dass es für alle reicht. Das geht nur durch eine neue Steuer- und Abgabenpolitik, die die Öffentlichen Hände so ausstattet, dass sie Wohnungen für Altbürger und Neubürger, Arbeitsplätze für Hiesige und Fremde ermöglicht und nicht nur Zuwandererinnen und Zuwanderer, sondern auch eingesessene Abgehängte integriert werden können. Dann wird der Zulauf für Pegida, die AfD und andere Brandstifter versiegen. Aber das geht nur, wenn – wie gesagt – der enorme Reichtum oben durch eine andere Steuer-, Abgaben- und auch Lohnpolitik wenigstens teilweise nach unten und in die Mitte umverteilt wird. Ob die wirtschaftlichen Eliten sich dann immer noch so generös äußern werden wie derzeit in der Flüchtlingsfrage, nämlich dann, wenn sie nicht nur den Menschen unten und in der Mitte etwas zumuten, sondern dies auch von ihnen verlangt wird – das ist eine interessante Frage.

 

Am 9. November 1938 brannten die Synagogen, knapp elf Monate später, am 1. September 1939, brannte die Welt. Die Mobilisierung des Mobs gegen die Juden war das Vorspiel für die Mobilisierung möglichst des ganzen Volkes für den Krieg, und der Krieg bildete den Rahmen für die Vernichtung der jüdischen Menschen im von Hitler-Deutschland eroberten Osten. Wer will, mag sich damit beruhigen, dass ein solcher Weltkrieg, ein Dritter Weltkrieg, heute undenkbar erscheint. Aber erinnern wir uns an den Herbst 1989, als mit dem Fall der Mauer der Kalte Krieg zu Ende ging. Viele träumten damals davon, dass nun eine Ära des dauernd gesicherten Friedens beginne. Stattdessen sind auch in Europa heute wieder Kriege führbar geworden: von Jugoslawien 1999 bis zum schwelenden Bürgerkrieg in der Ukraine. Außerhalb Europas, aber nicht unerreichbar weit entfernt, führen zwei Weltmächte teils verdeckt, teils offen einen Stellvertreterkrieg. Wir sehen: die Welt ist heute weniger friedlich als 1989, das Reden von der Friedensdividende von damals war eine Illusion. Und nun gibt es in den USA einen Präsidenten, der im Wahlkampf fragte, warum man denn die Atomwaffen, die man habe, nicht auch einmal einsetze.

 

So liegen heute verschiedene Elemente einer denkbaren neuen Katastrophe nebeneinander: Innenpolitisch im Anwachsen von Rechtsbewegungen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern Europas und in den USA, außenpolitisch in der Wiederkehr möglicher Kriege. Noch haben diese Lunten die verschiedenen Pulverfässer, die herumstehen, nicht erreicht. Was geschieht, wenn solche Gefahrenherde nicht rechtzeitig ausgeräumt werden: durch eine Beseitigung der wachsenden Ungleichheit im Innern und durch einen entschlossenen Widerspruch gegen alle Verführung zu militärischen Lösungen draußen: das haben die Generationen vor uns nach 1914 und nach 1933 erfahren, mit einem makaberen vorläufigen Höhepunkt am 9. November 1938. Dieser Vergangenheit angemessen zu gedenken heißt: die Gegenwart besser zu gestalten, als dies gegenwärtig geschieht.